Wir stellen das System in Frage

Dieses Problem lässt sich nicht so einfach lösen. Bestehende Rechtsnormen und UN-Richtlinien sollten Wanderarbeiter:innen in Europa schützen, werden aber immer noch nicht flächendeckend angewendet und durchgesetzt. Dies führt zur Ausbeutung der Erntehelfer:innen, auf die wir angewiesen sind, weil sie unser tägliches Obst und Gemüse ernten.

Das können wir nicht hinnehmen. Es ist an der Zeit, das System grundsätzlich in Frage zu stellen.

Unsere Kampagne betrachtet das große Ganze und richtet sich an alle Menschen und Organisationen, die mit uns zusammenarbeiten wollen, um solche Praktiken zu verändern, die zu Ausbeutung führen können. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern die Probleme zu analysieren und sicherzustellen, dass allen Wanderarbeiter:innen in Europa die 10 grundlegenden Garantien gewährt werden.

Große Chancen für einen Systemwandel

Es gibt viele Beispiele aus der Praxis, die grundsätzlichen Wandel herbeiführen können. Vorangetrieben wird dieser durch Gesetzgebung sowie von Organisationen und von Menschen, die Möglichkeiten wahrnehmen, damit sich die Bedingungen für Wanderarbeitnehmer:innen verbessern.

Wir alle können von diesen Vorbildern lernen, ihre Angebote nutzen oder ihre Prinzipien in der eigenen Arbeit umsetzen.

Die EU-Richtlinie zur unternehmerischen Sorgfaltspflicht im Hinblick auf Nachhaltigkeit, kurz: Lieferkettenrichtlinie der EU, trat 2024 in Kraft. Sie stellt sicher, dass die betroffenen Unternehmen die negativen Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf Menschenrechte und Umwelt innerhalb und außerhalb Europas identifizieren und angehen.

Jeder Mitgliedstaat ist dafür verantwortlich, diese Gesetzgebung gemäß der Richtlinie umzusetzen und durchzusetzen und in jeder Phase angemessene Kontrollen und Ausgleiche sicherzustellen. So zeichnet die Gesetzgebung selbst einen Weg zu Best Practices vor, der jedoch von der jeweiligen Vorgehensweise der einzelnen Mitgliedstaaten abhängt.

Die meisten EU-Mitgliedstaaten arbeiten noch an der nationalen Umsetzung. In Italien haben sich unsere Kampagnenpartner von We World im Rahmen der Kampagne Impresa2030 engagiert und sich für eine solide Umsetzung in nationales Recht eingesetzt. In der Schweiz, nicht Mitglied der EU, wurde die Initiative für verantwortungsvolles Wirtschaften (2020), die eine verpflichtende Sorgfaltspflicht und Unternehmenshaftung forderte, in einer landesweiten Abstimmung abgelehnt. Seit 2022 gilt dort eine eingeschränkte Sorgfaltspflichtregelung, allerdings nur für Mineralien und Metalle aus Konfliktgebieten und Kinderarbeit.

In den letzten Monaten konzentrierte sich der politische Diskurs um die Lieferkettengesetzgebung auf die Vereinfachung der Meldeverfahren auf nationaler und europäischer Ebene. Die EU-Richtlinie zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen in Hinblick auf Nachhaltigkeit zielte ursprünglich darauf ab, negative Auswirkungen von Unternehmen auf Menschenrechte und Umwelt zu identifizieren und anzugehen. Dies wird jedoch durch den Widerstand gegen die nötigen umfassenden Berichtsprozesse gefährdet.

Im Februar 2025 veröffentlichte die EU-Kommission ihren Omnibus-Vorschlag, „um die EU-Vorschriften zu vereinfachen, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und zusätzliche Investitionskapazitäten freizusetzen“. Unsere Kampagnenpartner Oxfam Deutschland und die Initiative Lieferkettengesetz – starke Befürworter der Rechenschaftspflicht in Lieferketten – verurteilen diese jüngsten Entwicklungen scharf. Sie befürchten „katastrophale Änderungen der zivilrechtlichen Haftungsbestimmungen und eine Abkehr von der Klimaschutzgesetzgebung – was letztlich den Kern der EU-Lieferkettenrichtlinie zerstört. Der Vorschlag von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schwächt die bestehenden europäischen Lieferkettenvorschriften erheblich und beeinträchtigt sowohl Umweltstandards als auch Menschenrechtsverpflichtungen, die Unternehmen entlang ihrer globalen Lieferketten einhalten müssen.“

Die Kampagne „THE PICKERS“ und die Maßnahmen unserer Partnerorganisationen kommen zur rechten Zeit und sind notwendig, um die ursprünglichen, umfassenderen Ziele dieser Gesetzgebung zu wahren. Die Aufrechterhaltung und europaweite Umsetzung dieser Gesetzgebung ist für die Transformation des Systems von entscheidender Bedeutung und erfordert breite politische Unterstützung sowie die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten.

Die Gemeinsame Agrarpolitik der EU umfasst ein Maßnahmenpaket, vor allem bestehend aus Agrarsubventionen, das die europäische Landwirtschaft unterstützt und nachhaltige Praktiken fördert. Ein zentraler Kritikpunkt an der Gemeinsamen Agrarpolitik ist das generelle Versäumnis, Subventionsempfänger für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden zur Verantwortung zu ziehen.

Die Einführung einer sozialen Konditionalitätsklausel in der aktuellen Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (2023 bis 2027) soll diesem Problem begegnen. Sie legt bestimmte Mindeststandards für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer:innen fest und droht der Landwirtschaft und der Lebensmittelproduktion mit Verwaltungssanktionen, wenn diese Standards nicht eingehalten werden.

Unsere Partner bei FIAN International sind der Ansicht, dass die bevorstehende GAP-Reform der EU die sozialen Konditionalität deutlich umfassender berücksichtigen muss.

Eine direkte Beziehung zwischen Landwirtschaft und Verbraucher:innen ermöglicht eine bessere Kontrolle der Behandlung von Landarbeiter:innen. Dann geht ein größerer Teil der Gewinne statt an den Zwischenhandel direkt an die Erzeuger:innen, die so bessere Bedingungen für ihre Arbeiter:innen schaffen können.

Beispiele für Direktvertrieb sind die Initiative Faire Orangen in Deutschland, Solrosa in der Schweiz oder die kürzlich gegründete Initiative Oranges for Justice in Großbritannien. Diese Gruppen organisieren gemeinschaftliche Großbestellungen und verteilen mehrmals pro Saison ausbeutungsfreie Orangen von SOS Rosarno, die sich verpflichtet haben, ihren Arbeitern eine Festanstellung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu bieten. Sie arbeiten außerdem mit lokalen Fair-Trade-Läden zusammen, um den Verkauf dieser Produkte zu koordinieren. Unsere Kampagne verwendet dieselben Orangen für unsere „Meet THE PICKERS“-Tour.

Unser Kampagnenpartner Gebana hat diese bewährten Verfahren in größerem Maßstab umgesetzt und sich als globaler Bauernmarkt positioniert, der anders handelt. Sie verkürzen die Lieferkette, indem sie direkt mit landwirtschaftlichen Familienbetrieben zusammenarbeiten und ihnen zusätzlich zu dem von Gebana gezahlten Preis für die Produkte 10 Prozent des Verkaufspreises aus ihrem Online-Shop zahlen, einschließlich Bio- und Fairtrade-Prämien.

Auch große Supermarktketten stellen auf kürzere Lieferketten um. Dies hilft ihnen, ihre ethischen Standards durchzusetzen und sich auf die zunehmende Verantwortung und Kontrolle durch Lieferkettengesetze vorzubereiten.

Ein weiteres Beispiel für bewährte Verfahren ist die “worker-driven social responsibility”, also soziale Verantwortung, die von den Arbeitskräften selbst ausgeht. Sie zeichnet sich durch drei entscheidende Merkmale aus:

  • Arbeiterorganisationen müssen die treibende Kraft bei der Entwicklung, Überwachung und Durchsetzung von Programmen zur Verbesserung ihrer Löhne und Arbeitsbedingungen sein.
  • Marken und Einzelhandel müssen rechtsverbindliche Vereinbarungen mit Arbeiterorganisationen unterzeichnen, die die Umsetzung der im Programm festgelegten Arbeitsnormen erleichtern.
  • Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen müssen so gestaltet sein, dass Arbeiter:innen eine wirksame Stimme beim Schutz ihrer Rechte haben.

Unser Kampagnenpartner Fair Food Program in den USA ist ein Pionier der “worker-driven social responsibility”. Das Programm hat eine einzigartige Partnerschaft geschaffen zwischen Erzeuger:innen, Arbeiter:innen und Lebensmittelhandel. Sie stellt angemessene Löhne und Arbeitsbedingungen für die Menschen sicher, die unsere Familien ernähren.

Von den Arbeitskräften ausgehende soziale Verantwortung stellt eine Abkehr vom typischen Fokus auf unternehmerische Sozialverantwortung dar. Sie stellt sicher, dass die Stimme der Arbeiter:innen vertreten ist und Audits nicht nur eine reine Pflichtübung sind, sondern messbare Rechenschaft ablegen.

Wir sind uns zwar bewusst, dass sich die Situation in Europa etwas von der in den USA unterscheidet, sehen aber eine gewisse Unfähigkeit der traditionellen Gewerkschaften, die Probleme von Wanderarbeitskräften anzugehen. Das Konzept einer von den Arbeitskräften ausgehenden sozialen Verantwortung könnte also für Europa sehr interessant sein.

Arbeiter:innen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen werden, können diese oft nicht melden, ohne Vergeltungsmaßnahmen befürchten zu müssen. Neben der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften ermöglichen robuste Beschwerdemechanismen jeder Person, die Kenntnis von einem Verstoß erlangt, diesen vertraulich zu melden.

Um Beschwerdemechanismen in Lieferketten weltweit zu harmonisieren, hat appellando – einer unserer Kampagnenpartner – ein Multi-Stakeholder-Framework etabliert, das Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Händler und Einzelhändler wie Aldi und Lidl umfasst. 

Darüber hinaus kooperiert appellando mit lokalen NGOs, um Schulungsinitiativen für Wanderarbeiter:innen in Spanien durchzuführen und sie über ihre Rechte und den Zugang zu Helplines aufzuklären. Dieses Best-Practice-Beispiel unterstreicht einen kooperativen Ansatz zur Gewährleistung der Durchsetzung der Menschenrechte in jeder Phase der Lieferkette, zu effektiven Untersuchungen und zu konzertierten, nachhaltigen Abhilfemaßnahmen.

Aktionen auf lokaler Ebene und die Integration in das gesellschaftliche Leben vor Ort sind Schlüsselfaktoren, um menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Dies erfordert Initiativen an der Basis – mit Bürger:innen, Produzent:innen und den Wanderarbeiter:innen selbst.

Wir arbeiten mit NO CAP zusammen, einer Bewegung zur Bekämpfung von „Gangmastering“ in der Landwirtschaft und zur Förderung von Menschenrechten, sozialen Rechten und Umweltrechten. NO CAP wurde vom ehemaligen Wanderarbeiter Yvan Sagnet gegründet und wird von einer Gruppe von Aktivist:innen und Freiwilligen geleitet, die gemeinsam ihre berufliche und persönliche Erfahrung nutzen, um Veränderungen herbeizuführen. Darüber hinaus unterstützt NO CAP lokale Initiativen wie das von Mediterranean Hope organisierte Wohnprojekt Dambe So („Haus der Würde“), das Wanderarbeitern angemessenen und bezahlbaren Wohnraum bietet und sie in das gesellschaftliche Leben vor Ort integriert.

Produzent:innen selbst können die Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter:innen positiv und direkt beeinflussen. SOS Rosarno, die am Ende des Films „THE PICKERS“ zu sehen sind und die Orangen für unsere „Meet THE PICKERS Tour“ liefern, ist ein Zusammenschluss von Landwirten im italienischen Rosarno. Diese haben sich verpflichtet, ihren Arbeiter:innen eine Festanstellung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu bieten sowie ihnen den Zugang zu angemessenen Unterkünften und einem lebendigen und einladenden Sozialleben zu ermöglichen. Sie vertreiben ihre Früchte direkter an die Verbraucher und erzielen so einen höheren Gewinn, der in Gemeinschaftsprojekte reinvestiert wird.

Unser Kampagnenpartner Good Food Good Farming vernetzt Initiativen an der Basis mit wichtigen Organisationen und nutzt Gelegenheiten, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Als zivilgesellschaftliches Bündnis, das von NGOs wie Friends of the Earth und SlowFood gesteuert wird, setzt sich SOS Rosarno für nachhaltige Lebensmittel und Landwirtschaft in ganz Europa ein. Während ihrer jährlichen Europäischen Aktionstage mobilisieren sie ihre Mitglieder auf lokaler, nationaler und EU-Ebene. 2025 werden diese Aktionstage unsere Kampagne rund um den Film „THE PICKERS“ einbinden. Kleine, lokale Maßnahmen können europaweit gesamtgesellschaftliche Wirkung entfalten und den Druck auf Entscheidungsträger:innen erhöhen.

Zertifizierungen können ein hervorragendes Instrument sein, um Verbraucher:innen zu helfen, Produkte und Unternehmen zu identifizieren, die bewährte Verfahren anwenden. Die Bio-Zertifizierung hat sich als wichtiges Instrument zur Verbreitung nachhaltiger landwirtschaftlicher Praktiken erwiesen, indem sie die Verbrauchernachfrage belegt und Menschen hilft, ihre Kaufkraft zu nutzen, um diese Veränderungen voranzutreiben. Ebenso hat die Fairtrade-Zertifizierung Verbrauchern und Unternehmen gleichermaßen geholfen, sicherzustellen, dass Arbeiter im Globalen Süden angemessen behandelt werden. Darüber hinaus gibt es weiter gefasste Zertifizierungen von Produktionsprozessen wie GlobalG.A.P., die vom Einzelhandel ins Leben gerufen wurden.

Menschenrechtsverletzungen in Europa werden jedoch durch bestehende Zertifizierungen nicht ausreichend untersucht, sodass noch viel zu tun bleibt. Beispielsweise arbeitet GlobalG.A.P. an einer Zusatz-Zertifizierung in diesem Bereich, und einige der strengeren Bio-Labels wie Demeter haben soziale Verantwortung integriert.